15. April 2024

In die Tiefe geblickt

Die Lebensgeschichte der Keutschacherin Antonia Sabotnik ist eine s von dreizehn Beispielen, die vom Österreichischen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus ausgewählt wurden und in der Broschüre „In die Tiefe geblickt“ zusammengefasst sind.
15. April 2024

In die Tiefe geblickt

Die Lebensgeschichte der Keutschacherin Antonia Sabotnik ist eine s von dreizehn Beispielen, die vom Österreichischen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus ausgewählt wurden und in der Broschüre „In die Tiefe geblickt“ zusammengefasst sind.

Erschütternde Erzählungen der Opfer, die heute noch physisch und psychisch an den Folgen des NS-Terrors leiden, wurden gegen das Vergessen zu Papier gebracht. In einer feierlichen Stunde, zu der Nationalratspräsident Heinz Fischer die Autoren ins Parlament einlud, wurde das Buch, welches übrigens im Klagenfurter Drava-Verlag erhältlich ist, präsentiert. Die erschütternde Lebensgeschichte von Antonia Sabotnik drucken wir an dieser Stelle unverändert ab.

Zwischen den Fronten
Ich war sechs Jahre alt als mein Bruder Andreas Ogris (geb. 17. Sept. 1924) 1943 zur Wehrmacht einrücken musste. Als er nach einem Genesungsurlaub 1944 nicht mehr an die Front zurückkehrte und sich stattdessen der Widerstandsbewegung anschloss, begann für mich und meine Familie ein grauenhafter Leidensweg. Mein Vater Johann (geb. 9. Sept. 1894) und mein Bruder Vinzenz Ogris (geb. 14. Dez. 1927) sind nach einer Hausdurchsuchung und Kreuzverhören durch die Gestapo im April 1944 verhaftet, von zu Hause fortgetrieben und ins KZ Dachau deportiert worden. Ich verblieb mit meiner Mutter und meinen drei Schwestern ( Sofia, Elisabeth und Maria) allein am Bauernhof, wo wir die gesamte Arbeit zu verrichten hatten. Dazu kamen wöchentliche Hausdurchsuchungen durch die Gestapo. Wir hatten furchtbare Angst und ein unbeschreibliches Gefühl der Bedrohung, da der gesuchte Bruder Andreas wegen einer schweren Verwundung im Elternhaus versteckt war. Eine meiner Aufgaben war es, Wache zu stehen und sich herannähernde Personen durch vereinbarte Signale sofort zu melden. Das Leben meines Bruders ( und unser aller Leben) hing davon ab. Im Herbst 1944 wurde ich eingeschult und blieb wegen meiner angegriffenen körperlichen Verfassung bei Verwandten in Ferlach, wo auch mein Bruder Johann (geb. 8. März 1926) wohnte und die Lehre absolvierte. Über das Schicksal meiner Familie wurde ich ab einem gesissen Zeitpunkt in Unwissenheit gelassen. Mir wurde auch nicht mitgeteilt, dass meine Mutter (Elisabeth Ogris, 1904 – 2000) und meine Schwestern am 14. November 1944 zwangsweise nach Deutschland deportiert worden waren. Trotz meiner Beuunruhigung und meines ständigen Fragens erhielt ich keine Antworten. Die Ungewissheit war umso unerträglicher, als mein Bruder Johann am 17. November 1944 plötzlich verschwunden war. Auch darüber, dass er zwangsrekrutiert worden war, ließ man mich in Unkenntnis. Schließlich wurde ich von weiteren Verwandten abgeholt und nach Plescherken bzw. Dobein bei Keutschach „verschleppt“. Hier wurde ich böse und unmenschlich behandelt, wären doch nach meinem Ableben die Verwandten die nächsten Erbberechtigten gewesen. Abgemagert, verlaust, mit Scarbis (Hautkrankheit) befallen und zur Gänze verwahrlost, fanden mich mein Vater und mein Bruder nach ihrer Rückkehr aus dem KZ-Dachau im Juni 1945 vor. Über das mir zugefügte Unrecht ist weder in der Familie noch sonst geredet worden. Auch von öffentlichen Stellen erfolgte lange Zeit keine Wiedergutmachung. Meine Herkunftsfamilie war nach 1945 zahlreichen Verhöhnungen und Erniedrigungen – wegen der Unterstützung und Beteiligung am bewaffneten Widerstandskampf – ausgesetzt. Meine beiden Brüder Andreas und Johann sind nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Andreas ist am 19. November 1944 in Velden am Friedhof von der SS und der Gestapo hingerichtet worden. Johann ist am 15. April 1945 an der Schweizer Grenze bei Donaueschingen gefallen. Während sich meine Familie nach Kriegsende mit dem Wiederaufbau zu beschäftigen hatte, blieb sie in der Aufarbeitung des erlebten Unrechts allein gelassen. Das Unrecht, das mir widerfahren war, ging dabei gänzlich unter. Im Laufe der Jahre musste ich zur Kenntnis nehmen, dass ich es nicht verdrängen und vergessen kann. Die zunehmenden Depressionen und mein allgemeiner schlechter Gesundheitszustand sind nicht zuletzt auf das mir zugefügte Unrecht zurückzuführen. Und das Traurige ist, dass ich bis heute nicht in der Lage bin, mir eine Art seelische Wiedergutmachung zu verschaffen.

v.l.: Dr. Helmut Liedermann, österr. Botschafter a.D., Thomas Sabotnik, NS-Opfer Antonia Sabotnik wurden von Nationalratspräsident Heinz Fischer im Parlament herzlich empfangen.

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