9. Feber 2024

Es sollte im Moment nur ein Ziel geben:Frieden für die ukrainische Bevölkerung herbeizuführen

Kosmopolit Mag. Stefan Schellander: “Alle meine Freunde in Russland wünschen sich ein baldiges Ende des Krieges und ein friedliches Leben. Sie haben ähnliche Vorstellungen vom Leben wie wir. Der Volksaufstand der jungen Russen ist ja schon im Gange: sie wollen oder können nicht gegen die Ukraine kämpfen, wo sie womöglich Verwandte und Freunde haben.”
9. Feber 2024

Es sollte im Moment nur ein Ziel geben:Frieden für die ukrainische Bevölkerung herbeizuführen

Kosmopolit Mag. Stefan Schellander: “Alle meine Freunde in Russland wünschen sich ein baldiges Ende des Krieges und ein friedliches Leben. Sie haben ähnliche Vorstellungen vom Leben wie wir. Der Volksaufstand der jungen Russen ist ja schon im Gange: sie wollen oder können nicht gegen die Ukraine kämpfen, wo sie womöglich Verwandte und Freunde haben.”

Seit Jahrzehnten verbinden Sie mit Moskau bzw. Russland Freundschaften. Viele interessierte Studenten und Reisefreudige bekamen durch Sie die Möglichkeit Moskau oder St. Petersburg kennenzulernen. Wie schockiert waren Sie ob der Nachricht des russischen Einmarsches in die Ukraine – oder war diese Entwicklung für Sie absehbar? Mag. Stefan Schellander: Ich war tatsächlich schockiert. Ich habe die Konzentration der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze für ein taktisches Manöver bzw. eine Drohung gegen die westlich orientierte politische Führung der Ukraine gehalten. Dass Putin eine weitere Annäherung der Ukraine an die NATO und die EU verhindern will, musste allen beteiligten politischen Entscheidungsträgern im Westen bekannt gewesen sein. 

Sie haben Russland und die Ukraine mehrfach bereist und bleibende Kontakte aufgebaut. Welche Ereignisse des 20. Jahrhunderts haben ihrer Meinung nach die Bevölkerung von Russland und der Ukraine besonders geprägt?
Ich habe noch im sowjetischen Moskau studiert und habe bereits als Student die Ukraine und Weißrussland besucht. Auch während späterer Besuche nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte man noch das Gefühl, dass es bei der Bevölkerung von Westrussland, der Ukraine und Weißrussland viele gleichartige Verbindungen gibt. Die gemeinsame Geschichte im 20. Jahrhundert hat die Völker stark geformt und auch einheitliche Lebensbedingungen geschaffen. Sie alle litten unter dem diktatorischen kommunistischen System, egal wer die Partei anführte. Gemeinsam erlebten sie die schrecklichen Jahre der Unterdrückung unter dem Georgier Josef Stalin. Hilflos mussten die Russen zur Kenntnis nehmen, dass der Parteichef Nikita Chruschtschow, der selbst aus der Ukraine stammte, im Jahre 1954 die Krim der Ukraine einverleibte. Im damaligen Staatsgefüge war dies auch nicht von großer Bedeutung, denn es veränderte nicht die Grenzen der Sowjetunion. Nach dem Zerfall der Sowjetunion befand sich die strategisch wichtige Krim im Ausland und es war das größte geopolitische Anliegen der Russen, die Krim wieder Russland anzugliedern. Auch die Osterweiterung der NATO trug dazu bei, dass die russische Bevölkerung auf Putin setzte. 

Haben Sie noch Kontakte zu russischen Freunden?
Alle meine Kontakte sind aufrecht geblieben. Wir telefonieren oft oder schicken uns Nachrichten per E-Mail oder WhatsApp. 

Wie würden Sie sagen, sehen die Menschen in Russland den Angriffskrieg bzw. in Putinschen Worten „die Spezialoperation“ in der Ukraine?
Alle meine Bekannten haben mir sofort mitgeteilt, dass sie den Überfall auf die Ukraine nicht befürworten. Sie meinen, dass dies auch auf die russische Bevölkerung zutrifft. Trotz der einseitigen staatlichen Nachrichten kann man sich in den sozialen Medien ein einigermaßen zufriedenstellendes Bild von den Geschehnissen in der Ukraine machen. 

Ist es Putins oder Russlands Krieg, welcher in der Ukraine unerbittlich geführt wird?
Es ist ein Krieg Putins und seines innersten Kreises. Deshalb auch die augensichtlich fehlende Motivation der russischen Soldaten. Wie bekannt, fordert Präsident Zelenskyj die Wiederherstellung der Ukraine in den Grenzen vor dem Konflikt, also auch die Krim. Sollte dies geschehen, könnte sich das Blatt wenden und man würde mit allen Mitteln die Krim verteidigen. Dann würde Russlands Krieg beginnen. 

Wie reagieren die Menschen auf die westlichen Sanktionen und sind diese Ihrer Meinung nach zielführend?
Die Russen können mit diversen Krisensituationen gut fertigwerden. Dennoch stört es sie, dass Sanktionen nur gegen gewisse Staaten verhängt werden. Als die USA den Irak überfielen, hat man in Europa Sanktionen nicht einmal in Erwägung gezogen. Außerdem ist Europas Friedenspolitik gescheitert. Sogar die Grünen in Deutschland setzten sich für Waffenverkäufe an die Ukraine ein. Früher hätte man Friedensdemonstrationen organisiert. 

Ist der Vergleich eines US-Angriffs nach dem Terroranschlag vom 11. Sept. auf die Terrororganisation Al Quaida und das Taliban Regime mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine als souveränen Staat zulässig?
Der Irak war zum Zeitpunkt der sogenannten Militäroperation der USA bzw. der „Koalition der Willigen“ auch ein souveräner Staat. Die von der UNO beauftragten Waffeninspektoren fanden keine Massenvernichtungswaffen und der Bericht der 9/11-Kommission vom Juli 2004 widerlegte die genannte Verbindung zu Al-Quaida. 

Es gibt ja hoffnungsvoller Weise auch immer eine Zeit nach dem Krieg. Gibt es eine demokratische Zukunft in Russland, wie sie der russische Bürgerrechtler und Nawalny-Vertraute Wolkow erhofft – oder ist diese Vision naiv? Die russische Jugend bzw. die meisten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion geboren wurden, sehen ihre Zukunft in einer auf die russischen Verhältnisse zugeschnittenen Demokratie. Viele befürchten dann eine Spaltung Russlands in mehrere Einzelstaaten, wie es z.B. die Schotten, Katalanen und Basken in den europäischen Demokratien versuchen. Auch hat man Angst vor einem Bürgerkrieg – die US Amerikaner sind nach Trumps Wahlniederlage knapp einem solchen entgangen. Putin war bis vor kurzem für viele der stabile Faktor, der ein geeintes Russland garantierte. 

Politologen sehen drei Möglichkeiten zur Beendigung des Krieges: den Tod des Despoten, eine Palastrevolte oder ein Volksaufstand. Was scheint am wahrcheinlichsten? Oder sehen Sie ein ganz anderes Szenario?
Diese Frage kann derzeit niemand beantworten. Es sollte im Moment nur ein Ziel geben: Frieden für die ukrainische Bevölkerung herbeizuführen. Da müssen auch Präsident Zelenskyj und die westlichen Verbündeten einlenken. Eine erklärte neutrale Ukraine wäre der erste Schritt, dann müsste man verhandeln, ob man in den besetzten Gebieten der Ostukraine die Meinung der Bevölkerung respektiert bzw. unter internationaler Aufsicht andere Lösungen findet. Der Volksaufstand der jungen Russen ist ja schon im Gange: sie wollen oder können nicht gegen die Ukraine kämpfen, wo sie womöglich Verwandte und Freunde haben. Man kann es auch so formulieren, dass sie in den Ukrainern keine Feinde sehen

“Präsident Zelenskyj fordert die Wiederherstellung der Ukraine in den Grenzen vor dem Konflikt, also auch die Krim. Sollte dies geschehen, könnte sich das Blatt wenden und es wäre nicht mehr Putins Krieg. Man würde mit allen Mitteln die Krim verteidigen. Dann würde Russlands Krieg beginnen. Mag. Stefan Schellander

Zelenskyj erklärte sich im März bereit zu Gesprächen über eine Neutralität der Ukraine, wollte dafür aber den Abzug der russischen Truppen. Das schien Putin nicht beeindruckt zu haben… Sollen sich Zelenskyj und die westlichen Verbündeten nun die Frage stellen, wie viele Menschenleben die Ukraine für die Verteidigung ihrer Demokratie opfern kann/darf/soll…?
Wenn es um die Verteidigung der Demokratie geht, müsste man auch die Meinung der Opposition zu Wort kommen lassen. Man sieht immer nur Zelenskyj in den Medien, also entscheidet eine überschaubare Anzahl von einflussreichen Politikern und Oligarchen über das Schicksal von 43 Millionen Menschen, wovon 33% Russisch als Muttersprache haben. 

Der Angriffskrieg in der Ukraine läuft für Putin jedenfalls nicht wie erwartet. Spätestens die große Mobilisierung von Reservisten, müsste den Druck auf Putin enorm erhöhen. Wie lange meinen Sie, kann sich Putin noch an der Macht halten?
Gorbatschow hat in der entscheidenden Situation seine eigene Karriere zugunsten des Friedens geopfert. Putin ist das Gegenteil von Gorbatschow. Er wird alles daran setzten, um an der Macht zu bleiben. 

Im März 2024 finden in Russland die Präsidentschaftswahlen statt. Kann Putin unter diesen Umständen noch einen Wahlkampf antreten oder gibt es eine reelle Chance, dass der Staatsapparat Putin als Staatschef nicht mehr mitträgt – das wäre eine Geschichte der Wiederholungen von Gorbatschow und auch Chruschtschow. Wäre das ein Szenario für eine friedliche Wende? Derzeit kann man das nicht beurteilen. Putins Zukunft hängt davon ab, wie er den Krieg in der Ukraine beenden wird. Medial überlässt er die Bühne dem ukrainischen Präsidenten Zelenskyj, auch ansonsten ist er bis jetzt in jede Falle getappt, die ihm Zelenskyj und seine westlichen Verbündeten gestellt haben. 

Stellen wir uns vor, Putin ist weg. Was könnte danach kommen? Sehen Sie Möglichkeiten, dass sich in Russland Machthaber finden, die sich vom Krieg distanzieren und unter Umständen sogar eine Allianz mit dem Westen versuchen um einerseits zu verhindern, dass Atomwaffen in jemandes Hände wie Kadyrow geraten – und andererseits ein Interesse daran haben mit dem Westen einen Deal in punkto Sanktionen und eingefrorenem Vermögen zu machen.
Eine Allianz mit dem Westen wäre auch in den ersten Jahren nach der Machtübernahme durch Putin möglich gewesen. Doch bald haben auch die westlichen Staaten bewiesen, dass sie den Blockgedanken nicht abgetan haben und haben ihre Einflusssphäre nach Osten erweitert. Dazu kamen wirtschaftliche Interessen der USA, die schon immer einen großen Einfluss auf die westlichen europäischen Staaten ausübten. Was die Sanktionen betrifft, werden sie auch in unserem Interesse nicht haltbar sein. Russland breitet sich auf 11 Zeitzonen bis Japan aus und westliche Firmen stehen bereits in den Startlöchern, um nach der Konfliktbeilegung in der Ukraine wieder Handelsbeziehungen mit Russland aufzunehmen. Außerdem halten sich nicht alle an die Sanktionen. Während der European Bike Week in Faak hatte ich die Möglichkeit, ein längeres Gespräch mit Bill Davidson zu führen. Nachdem sich die Harley Davidson Inc. den Sanktionen angeschlossen hat, versucht nun der Konkurrent Indian Motorcycle Company den russischen Markt zu erobern. 

Wenn Sie mit ihren russischen Freunden sprechen, haben sie da das Gefühl, dass sie Veränderung wollen?
Alle meine Freunde in Russland wünschen sich ein baldiges Ende des Krieges und ein friedliches Leben. Sie haben ähnliche Vorstellungen vom Leben wie wir. Der Sohn einer Bekannten ist 21 Jahre und im 3. Semester seines Studiums. Für die Familie ist es unvorstellbar, dass er nun in den Krieg zieht! 

Kann das Ziel der gesamten liberalen Opposition – eine Demokratisierung gelingen? Ist die russische Gesellschaft in absehbarer Zeit bereit für Demokratie?
Die russische Gesellschaft ist bereit für die Demokratie, aber nicht für Experimente. Auch Europa kann sich nicht einen neuen Ansturm von Flüchtlingen aus Russland leisten. 

Welche Experimente meinen Sie?
Nehmen wir z.B. den im Westen sehr bekannten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Viele Russen halten ihn für ein politisches Chamäleon und Populisten, dem sie nicht eine führenden politische Rolle zutrauen würden. 

…oder kommt es bei einer politischen Neuordnung gar nicht auf die Gesellschaft, sondern auf die Eliten an?
Manchmal drängen sehr egozentrische und machtbesessene Personen in die Regierungen. Wir kennen das auch aus unseren westlichen Demokratien. 

Welche Chance hat Europa zu einem friedensstiftenden Szenario beizutragen oder wird der Einfluss des Westens generell überschätzt?
Europa müsste zumindest den russischen Kulturschaffenden und Sportlern eine Möglichkeit zur Teilnahme bei internationalen Ereignissen geben. Man kann nicht die ganze Nation für etwas bestrafen, was wahrscheinlich einige wenige eingeweihte Personen in der russischen Führung angerichtet haben. An der Adria habe ich im Sommer ukrainische Touristen getroffen. Auch sie meinten, dass der Krieg in der Ukraine nicht der ihre wäre. Ihrer Meinung nach wurde er unter anderem auch von national gesinnten ukrainischen Politikern provoziert. 

Sehen Sie nach Russlands brutaler Invasion in die Ukraine für den Tag danach seitens Europa noch die Bereitschaft für die Unterstützung


“Gorbatschow hat in der entscheidenden Situation seine eigene Karriere zugunsten des Friedens geopfert. Putin ist das Gegenteil von Gorbatschow. Er wird alles daran setzten, um an der Macht zu bleiben.” Mag. Stefan Schellander

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