Sie sind als Journalistin in der Rolle der Fragenden, was zweifelsohne oft eine Herausforderung darstellt -denke man da nur an Gespräche mit Peter Handke. Welche Interviews bzw. Interviewpartner empfinden Sie als besonders große Aufgabe?
Katja Gasser: Als besonders große Aufgabe empfinde ich Interviewpartner, die sich sklavisch an alle Regeln und Konventionen halten: das führt meistens zu sehr schlechten Interviews. Peter Handke ist das Gegenteil eines solchen Gesprächspartners. Ich führe Interviews, um etwas zu erfahren, das ich nicht ohnehin schon weiß und nicht, um ein Regelwerk gemeinsam mit jemandem anderen zu vollziehen. Gleiches gilt übrigens fürs Lesen: ich will beim Lesen auch nicht in meiner eigenen kleinen Welt, in meiner eigenen Beschränktheit bestärkt werden, sondern herausgefordert werden, korrigiert, irritiert, in Neues gestürzt werden: Lesen wie Interviews-Führen fördert, im Idealfall, Erkenntnis. Deshalb: mir ist jeder Interviewpartner recht, der mich nicht langweilt, weil er mich in meiner eigenen Dummheit belässt.
Stößt man da nicht manchmal auch an die Grenze des Be-greifbaren und wie geht man mit solchen Situationen um?
Das Leben selbst, die Welt selbst stößt einen ständig an die Grenzen des Begreifbaren. Außerdem: man darf in meinem Beruf nicht allzu zart besaitet sein. Auf der einen Seite.
Auf der anderen Seite ist die Zart-Besaitetheit geradezu Voraussetzung. Wie kann man lesen, ohne zart besaitet zu sein? Kann man, ja, aber dann versteht man halt nichts, am aller wenigsten sich selbst.
Anlässlich zahlreicher Äußerungen über den Literaturnobelpreisträger Peter Handke meinten Sie, dass mit dieser Debatte „auch die Verachtung gegenüber der Kunst im Allgemeinen in enthemmter Art“ einhergehe und „das Abbild des aktuellen gesellschaftlichen Zustands“ sei. Wie würden Sie den heutigen gesellschaftlichen Zustand Österreichs – nach Corona und den Folgen des Ukraine-Krieges – bewerten?
Wir gehen mitten durch eine radikale Zivilisationswende, auch in Österreich. In Europa herrscht wieder Krieg. Als das meine Tochter auf einer der Tageszeitungen, die wir abonniert haben, das erste Mal gelesen hat, war sie ganz erschüttert und meinte: Europa, Mama, das sind ja wir!? Ja, Europa, das sind wir. Wir können jetzt noch gar nicht absehen, was das für uns alle, für die Generationen nach uns, bedeutet. Solch schwierige, komplexe Situationen gefährden immer auch das Demokratische: an diesem Demokratischen zu arbeiten, es zu verteidigen: das ist unser aller tägliche Aufgabe, auch und nicht zuletzt in Österreich, auch und nicht zuletzt in den schönsten, entlegensten Winkeln unseres Landes. Dazu zählt: sich jederzeit und an jedem Ort gegen Korruption auszusprechen und gegen Machtmissbrauch. Demokratie ist nichts, was uns für immer gegeben ist, und sie bedeutet nicht die Tyrannei der Mehrheit über eine Minderheit, sondern sie bedeutet vor allem den Schutz von Minderheiten vor dem Terror von Mehrheiten. Der Zustand in Österreich ist hinsichtlich der Demokratiefestigkeit durchaus bedenklich, sehr fragil: wir Zeitgenossen sind also gefordert, nichts fällt vom Himmel.
Sehen Sie eine oft diagnostizierte Spaltung unserer Ge-sellschaft aufgrund der Debatten um Corona-Maßnahmen und wirtschaftliche Folgen des Ukraine-Krieges oder macht sich hierzulande „Wohlstandverwahrlosung“ breit?
Sowieso macht sich Wohl-standverwahrlosung breit: wenn ich durch mein Süd-kärntner Dorf gehe, frage ich mich oft, ob aus diesem Landstrich die Welt ausgezogen ist. Aber das trügt natür-lich. Eine der größten Mensch-heits-Niederlagen ist ja, dass Wohlstand die Menschen nicht besonders großherzig macht, sondern häufig das Gegenteil der Fall ist. Zugleich muss man sagen: schlechte Lebensverhältnisse machen die Menschen natürlich auch nicht besser. An Armut ist nichts zu beschönigen. Ich bin der Meinung: wenn man von Reichen nichts verlangen darf, dann von Armen schon erst recht nichts: gleiches Recht für alle. Wir sollten uns aber alle zu-sammen um eine Gesellschaft bemühen, in der die Einzelnen unabhängig von Herkunft etc. solidarisch miteinander verbunden sind und sich jeder frei entwickeln und würdevoll leben kann. Eine Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, eine Gesellschaft, in der der Kampf um würdevolle Arbeit, um ein halbwegs gutes Einkommen, um ein möglichst leistbares Wohnen immer härter wird: eine solche Gesellschaft wird auch für unsere reichen Zeitgenossen auf Dauer sehr ungemütlich: ein Blick in die Geschichte reicht.
Welchen Beitrag kann/soll/ muss Kunst und Kultur in Zeiten wie diesen leisten? Sollte Literatur fordernder, lauter, klarer werden?
Literatur und Kunst müssen gar nichts. An der Freiheit der Kunst lässt sich der Grad un-ser aller Freiheit messen. Das heißt: wenn wir für die Freiheit der Kunst kämpfen, kämpfen wir letztlich für unser aller Freiheit.
Als eine mit dem österreichischen Staatspreis ausge-zeichnete Literaturkritikerin gelten Sie als klar, bestimmt und dennoch bedächtig agie-rend Fragende. Wie würden Sie Ihre Aufgabe als Journalistin und Literaturkritikerin zusammenfassen – was bzw. welche Werte möchten Sie dem Hörer/Leser vermitteln?
Peter Handke hegt gegen all jene, die das Wort ‚Wert‘ gern im Mund führen große Skepsis
– wie ich finde, zu Recht. Werte werden häufig wie Keulen gegen andere geschwungen. Ich agiere aber in meiner gesamten Arbeit nicht ‚gegen‘ etwas, sondern, wenn, dann
‚für‘ etwas: für die Freiheit, für Gerechtigkeit, für Egalität, für Frieden, für die Einsicht, dass wir ohne Kunst verloren wären
– und das gilt auch für all jene, die für sie keinen Sinn haben. Ich habe mich in meiner Arbeit stets in Distanz zur Macht verstanden, immer in nötigem Abstand, auch zu meinen Inter-viewpartnern. Wenn man Journalismus ernst nimmt, unddas tue ich, dann ist er in der Tat eine wichtige Demokratie-säule: nicht zuletzt, weil zu sei-nen zentralen Aufgaben zählt, die Macht immer und an jedem Ort kritisch ins Visier zu neh-men. Darin ist er, der Journa-lismus, der Kunst, der Literatur, zumindest verwandt. Peter Handke hat sinngemäß in sei-ner Büchnerpreisrede gesagt, er empfinde Ekel vor der Macht: ich kann das sehr gut nachvollziehen. Vielleicht bin ich deshalb Journalistin gewor-den.
Nun gibt es einen offensichtlichen Rollenwechsel in der Familie: Mutter wird zur In-terviewten, Kind ist herausfordernder Fragesteller. Haben Sie da nicht manchmal das Gefühl, dass ihnen ein Spiegel vorgehalten wird?
Mein Kind ist mir überhaupt in vielem ein Spiegel. Und zu-gleich überlebensnotwendige Korrektur. Ich bin meines Kindes wegen Optimistin, trotz allem: wir müssen uns doch schon unserer Kinder wegen anstrengen, dass diese ver-dammte Welt nicht untergeht, nur weil wir alle offenbar nicht zu zivilisierende Barbaren sind!
In welcher Rolle – der Interviewerin oder der Interviewten –auf welcher der beiden Seiten zu stehen, ist die größere Herausforderung?
Beide Seiten sind aus unterschiedlichen Gründen heraus-fordernd. Ich fühle mich jeden-falls auf der Seite der Fragen-den heimischer: das Fragen: es entspricht meinem insgesamten Lebensgefühl besser.
Danke für das Gespräch.
Katja Gasser lebt als Kulturjournalistin und Literaturkritikerin in Wien. Seit Ende 2008 Leitung des Literaturressorts im ORF-TV. 2019 erhielt sie den Österreichischer Staatspreis für Literaturkritik.
Bei der Leipziger Buchmesse 2022/23 zeichnete Gasser für die künstlerische Leitung des Gastlandauftritts Österreichs verantwortlich.